Die zertifizierte LRS-Therapie nach Reuter-Liehr ist ein mehrfach wissenschaftlich überprüftes Behandlungssystem der Lese-Rechtschreibstörung. Ziel ist die erfolgreiche Kompensation. Mehrere unabhängige Studien konnten kurzfristige (Reuter-Liehr 1993, 2001; Weber/Marx/Schneider 2002; Klicpera et al. 2013, etc.) als auch nachhaltige Erfolge (Unterberg 2005) der Behandlung mit hoher Effektstärke (Reuter-Liehr 2016) belegen. Die Ergebnisse der Follow-up-Studie von Daniela Unterberg finden Sie unten als PDF.
Der bisherige Forschungsstand hat ergeben, dass sich die fundierteste Vorgehensweise in der Legasthenietherapie am Entwicklungsprozess des Schriftspracherwerbs orientiert und ein konsequent strategiegeleitetes Lernen ermöglicht (Mannhaupt 1999). Diese Erkenntnis beherzigt das konzeptionelle Vorgehen seit über 25 Jahren, entstanden zunächst überwiegend aus der Beobachtung langjähriger legasthenietherapeutischer Praxis (seit 1970), in einem Forschungsprojekt (1987-1993) an der Universität Göttingen empirisch überprüft und stets weiterentwickelt (Reuter-Liehr 1993, 2001/2006/2008/2010/2011/2015/2017, Bd. 1 etc.).
Die Orientierung am Entwicklungsprozess des Schriftspracherwerbs bedeutet, zunächst die Zugangsweise zur lautorientiert/phonemischen Strategie zu sichern, um dann die orthographisch/morphemische Strategie – Regel und Speichertraining – anzuschließen. Ziel ist, das legasthene Kind Schritt für Schritt zu befähigen, gezielt hilfreiche Lese- und Rechtschreibstrategien einzusetzen, da es die strukturellen Regelmäßigkeiten der deutschen Orthografie nicht intuitiv erfassen kann. In der Therapie gilt es, seine bisher erlebte Überforderungssituation bei schriftsprachlichen Arbeiten in Schule und Elternhaus zu beenden, um seine emotionale Belastung durch zuvor erfahrene Misserfolge aufzuheben. Das bedeutet an seiner Nullfehlergrenze zu starten, seinen Lern-Leistungsmöglichkeiten sowie seinem Lerntempo angemessen im Schwierigkeitsgrad steigend voranzuschreiten, um es zunehmend zu befähigen, eine bewusste Kontrolle seines Lese- und Schreibvorganges vorzunehmen. Dies wiederum mit dem erklärten Ziel, neben seiner steigenden Schriftsprachkompetenz einen eigenverantwortlichen Umgang mit seinen individuellen LRS-Problemen zu erlangen, denn nur auf diese Weise sind Transfer in die Schulsituation und Langzeiterfolge zu erwarten.
Diese Orientierung am Entwicklungsprozess des Schriftspracherwerbs im Gegensatz zur Bearbeitung individueller Fehlerschwerpunkte hat neben den systematischen Aufbaumöglichkeiten der deutschen Orthografie den entscheidenden Vorteil, dass dem Kind die Gesetzmäßigkeiten der deutschen Schriftsprache Stück für Stück in ihrer Gesamtheit verständlich und nachvollziehbar werden. Dies erleichtert Transfermöglichkeiten (Übertragung des Gelernten) auf nicht geübte Wörter gleichen Schwierigkeitsgrades. Bereits seit langem gibt es wissenschaftliche Abhandlungen, die darlegen, dass ein Verfahren zur Behandlung von Legasthenie um so erfolgreicher ist, je systematischer es aufgebaut wurde. Erfahrungen haben gezeigt, dass Legastheniker oft selbst auf der Suche sind, System und Logik in der Rechtschreibung zu entdecken. Das hier vorgestellte LRS-Therapiesystem kommt dem entscheidend entgegen.
Ziel ist die Vermittlung einer langfristigen, sicheren Lese-Rechtschreibkompetenz, die nur durch eine systematische Arbeit am Schriftspracherwerbsprozess, nicht aber durch kurzfristiges Fehlertraining oder gar schriftsprachunabhängigen Übungen erreicht werden kann.
Das umfassende Behandlungssystem setzt sich zusammen aus sogenannter lautgetreuer Lese- Rechtschreibförderung mit Hilfe der rhythmischen Silbensegmentierung (Durchgliederung von Wörtern in Sprechsilben), dem Aufbau kognitiven Regelwissens auf der Basis einer gesicherten lautgetreuen Lese-Rechtschreibfähigkeit mit Hilfe einer eingeschränkten Morphemsegmentierung (Durchgliederung von Wörtern in Bedeutungseinheiten) und dem Training von Speicherwörtern wiederum auf der Basis der erlernten Morphemsegmentierung. Es integriert senso-motorisch orientierte, den Lese- und Schreibvorgang steuernde Methoden (Lautgebärdeneinsatz und Rhythmisches Syllabieren in drei Trainingsschritten). Das synchrone Sprechschreiben – der entscheidende Trainingsschritt des Rhythmischen Syllabierens beim Aufbau einer steuernden Mitsprechstrategie – erfordert zudem eine verbundene Handschrift, um Silben leichter als sprachliche Einheiten wahrnehmen zu können. Verhaltenstherapeutische Verstärker helfen die Motivation beim Strategieaufbau zu erhalten und Erfolge zu sichern. Das Zusammenwirken der einzelnen, sinnvoll aufeinander bezogenen Bestandteile dieses Systems, die sich wechselseitig fördern, ergibt einen hohen Synergieeffekt und steigert nachhaltig den Erfolg.
Vier elementare Bestandteile werden konsequent miteinander verknüpft, um auf der Grundlage dieses integrativen Vorgehens ein strategiegeleitetes Lernen zu ermöglichen:
Grundlage der Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung und des weiteren Trainings zum Erlernen von Regeln und Ausnahmen ist das konzeptionelle Vorgehen, vom Häufigen zum Seltenen und vom Leichten zum Schweren voranzuschreiten. Am häufigsten schreiben wir so, wie wir korrekt sprechen können; denn die deutsche Schriftsprache kann auf der Wortebene bei bewusst gesteuerter Artikulation (bei Einsatz der so genannten Pilotsprache) zu ca. 60 % als lautgetreu bzw. mitsprechbar definiert werden. Zugleich ist es für das Kind beim Lesen- und Schreibenlernen am leichtesten mit diesen Mitsprechwörtern – die eine 1:1 Beziehung zwischen Laut und Buchstaben repräsentieren – zu beginnen. Diese werden wiederum in sechs steigende Schwierigkeitsstufen (Phonemstufen 1-6) eingeteilt.
Zu Beginn trainiert das Kind steuernde Lese- und Schreibstrategien mit einfach strukturierten Wörtern ohne Konsonantenhäufung innerhalb einer Silbe (Elementartraining: Phonemstufen 1 und 2), um dann zu Wörtern mit Konsonantenhäufungen (Aufbautraining: Phonemstufen 3 und 4) überzugehen usw. Dieses sprachsystematisch aufbauende Vorgehen mit ausschließlich mitsprechbarem Wortmaterial hat für das legasthene Kind den Vorzug, dass es nicht überfordert wird und gleichzeitig zuerst den größten Teil der Fehler vermeiden lernt, was Selbstvertrauen und Lernmotivation erheblich steigert; ein aus psychotherapeutischer Sicht sehr wichtiger Gesichtspunkt.
Erst wenn das Schreiben der Mitsprechwörter weitgehend beherrscht wird, geht das Training zu regelhaften Abweichungen von der Lauttreue, den so genannten Regelwörtern (ca. 30% Vorkommnisse in der deutschen Orthografie) über, um dann anschließend zu den Speicherwörtern (ca. 10%) zu kommen.
Während des gesamten Lernprozesses wird konsequent nur exakt lautanalytisch ausgewähltes Wortmaterial – dem Lernstand des Kindes entsprechend – eingesetzt. Auf diese Weise kann sich das Kind stets auf die trainierten Lese- und Schreibstrategien verlassen und sich trotz steigenden Schwierigkeitsgrades emotional stabilisieren.
Die Kategorisierung des Niedersächsischen Grundwortschatzes gemäß der zugrundeliegenden Sprachsystematik ergab folgendes Bild:
(1) Training der lautorientiert/phonemischen Strategie: Neben einer sicheren Laut-Buchstaben-Zuordnung beim Schreiben unter Einsatz von Lautgebärden ist das Erlernen der richtigen Silbengliederung ein grundlegender Bestandteil der ersten Therapiephase. Das Silbentraining erfolgt unter Einbeziehung der gesamten Körpermotorik – Schwingen mit dem Schreibarm, Schreiten in Schreibrichtung und Sprechen im Silbenrhythmus – mit anschließendem synchronen Sprechschreiben und Silbenbögenlesen. Wir bezeichnen diese drei Trainingsschritte als Rhythmisches Syllabieren. Auf diese Weise werden Laut/Buchstabenzuordnungen gefestigt und es gelingt eine korrekte Wortdurchgliederung.
Die Lesefertigkeit wird bei Bedarf mit Hilfe der Lautgebärden zur Sicherung der Buchstaben/Lautzuordnung unterstützt. Die Lautgebärden helfen, die Zuordnungen bewusster visuell und sprechmotorisch zu erfassen, insofern auch akustisch genauer zu differenzieren und zu speichern. Die Synthese von Lauten zur Silbe und dann zum Wort gelingt leichter durch die verbindende Handmotorik der einzelnen Lautgebärden zur Silbe. Das Lesetraining erfolgt mit lautem Silbenbögenlesen unter lautgetreues Wort- und Textmaterial, dem jeweiligen Lernstand entsprechend. Bei Bedarf werden weitere visuelle Vorstrukturierungen in das Training integriert: Das Vorab-Markieren von Vokalen auf den Phonemstufen 1 und 2 und von Clustern zu Beginn einer Silbe auf den Phonemstufen 3 und 4. Das mehrfach wiederholende laute, flüssige Lesen eines vorab strukturierten und insofern bekannten Textes automatisiert das Lesen im Übungsbereich. Dabei wird das sinnbetonte Lesen durch ein Lesen mit Ausdruck trainiert und verstärkt. (Näheres zum integrierten Lesetraining in Reuter-Liehr, Bd. 2/1, 2/2, 3 und 4, 2017-2023)
(2) Training der orthographisch/morphemischen Strategie: In der zweiten Therapiephase wird schrittweise die Morphemsegmentierung (Durchgliederung von Wörtern nach Bedeutungseinheiten) als weitere sprachstrukturierende Methode trainiert, um zunächst regelhafte Abweichungen von der Lauttreue besser erfassen zu können. Gestartet wird dabei mit den Anfangsmorphemen (Vorsilben), so dass zunächst keine Interferenzen mit der zuvor trainierten Silbengliederung entstehen. Können Anfangs- und Endmorpheme von Wörtern sicher abgegliedert werden, so ist das Hauptmorphem (Wortstamm) klar erkennbar, welches ggf. das eigentliche Rechtschreibproblem enthält, nämlich die Notwendigkeit des Ableitens von einem verwandten Wort. Vier übergeordnete Ableitungsstrategien geben dem Kind eine konkrete Hilfe, dies sicher herauszubekommen.
(3) In einer dritten Therapiephase gilt es – wenn es sich als notwendig erweisen sollte – die orthographisch/morphemische Strategie zu erweitern und Ausnahmewörter zu speichern; dies ebenfalls in einer sinnvollen Systematik basierend auf der erlernten Morphemsegmentierung.
Lese-Rechtschreibfertigkeiten sind in fast allen Lebensbereichen, vor allem aber im Schulalltag, unerlässlich. Legasthene Kinder werden täglich mit ihrer Schwäche konfrontiert, was zu erheblichen emotionalen Problemen mit Verhaltensauffälligkeiten führen kann. Aus diesem Grunde, aber auch um diesen oft Kraft und Zeit raubenden Lernprozess erfolgreich durchhalten zu können, benötigt das legasthene Kind besondere emotionale Unterstützung. An dieser Stelle ist die Zusammenarbeit mit den Eltern als wichtigste emotionale Bezugspersonen enorm wichtig. So wird beispielsweise eine Honorierung der außerschulischen Bemühungen des Kindes – denn Erwachsene neigen dazu, zusätzliches Training als selbstverständlich zu begreifen – nach Einhaltung von Abmachungen als verhaltenstherapeutische Verstärkung vereinbart.
Lernmotivation erhaltend für das Kind sind besonders die konkret erfahrbaren und wachsenden Erfolge in seiner Lese-Rechtschreibentwicklung. Bei einer systematischen, dem Lerntempo des Kindes angemessenen Vorgehensweise gewinnt es nach und nach auch eine emotionale Sicherheit im Umgang mit Schriftsprache. Dies trägt dazu bei, die vorherige Misserfolgsorientierung abzubauen.
Für den Fall einer Stagnation im Lernprozess muss die Behandlung auch kompetente psychotherapeutische Elemente integrieren. Emotionale Befindlichkeit, lernhemmende Verhaltensprobleme sowie Eltern und Lehrer werden in die Behandlung einbezogen. Je früher dies bei auftauchenden Problemen geschieht, um so besser lassen sich schwerwiegende soziale Folgen vermeiden. Angewandt werden vor allem Elemente aus der Verhaltenstherapie und nicht-direktiver Gesprächspsychotherapie.
Diese verantwortungsvolle Arbeit findet natürlich unter Supervision statt.